Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in einem Urteil (Urt. v. 17.02.2016, Rechtssache C 429/14) entschieden, dass ein Arbeitgeber einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz für die Verspätung eines Fluges, auf den seine Mitarbeiter zur Durchführung einer Dienstreise gebucht waren, gegen das durchführende Luftfahrtunternehmen hat.
Dem Urteil des EuGH lag folgender Sachverhalt zugrunde: ein Sonderermittlungsdienst der Republik Litauen schloss einen Beförderungsvertrag mit dem Luftfahrtunternehmen Air Baltic, wobei von dem Sonderermittlungsunternehmen zwei Tickets gekauft wurden, die für zwei seiner Arbeitnehmer zur Durchführung einer Dienstreise bestimmt waren. Die Reise sollte von Vilnius (Litauen) über Riga (Lettland) und Moskau (Russland) nach Baku (Aserbaidschan) gehen. Sie sollte am 16.01.2011 um 9:55 Uhr starten und die beiden Arbeitnehmer des Sonderermittlungsunternehmens sollten noch am gleichen Tag in Baku ankommen. Allerdings hatte der Anschlussflug von Riga nach Moskau eine Verspätung, sodass die beiden Arbeitnehmer mit einer Verspätung von mehr als 14 Stunden an ihrem Zielort Baku ankamen. Dies führte dazu, dass die Geschäftsreise verlängert werden musste, weshalb das Sonderermittlungsunternehmen wiederrum zusätzliche Kosten und Sozialversicherungsbeiträge i.H.v. 1.168,35 litauischen Litas (umgerechnet: 338 €) zu zahlen hatte. Diesen Betrag forderte das Sonderermittlungsunternehmen im Rahmen des Schadensersatzes nach dem Montrealer Übereinkommen von Air Baltic. Das Luftfahrtunternehmen weigerte sich jedoch der Forderung nachzukommen, weshalb das Sonderermittlungsunternehmen zunächst eine Klage vor dem 1. Bezirksgericht der Stadt Vilnius erhob. Der Klage gab das Gericht statt, woraufhin Air Baltic Berufung vor dem Regionalgericht Vilnius einlegte. Die Berufung wurde allerdings abgewiesen und das erstinstanzliche Urteil bestätigt. Aus diesem Grund legte Air Baltic dann Kassationsbeschwerde (vergleichbar mit der Revision) vor dem obersten Gerichtshof Litauens ein und machte geltend, dass der Sonderermittlungsdienst kein Recht habe sich auf Art. 19 des Montrealer Übereinkommens zu berufen, da der Anwendungsbereich dieses Artikels nicht auf juristische Personen ausgedehnt werden könne. Die darin geregelte Haftung gelte lediglich gegenüber Reisenden und nicht gegenüber Dritten, vor allem nicht wenn es sich bei den Dritten um juristische Personen handele, da diese nicht gleichzeitig Verbraucher sein können. Im Gegenzug trug das Sonderermittlungsunternehmen vor, dass der Art. 19 der Montrealer Übereinkommens wohl anwendbar sei, da das Unternehmen Partei des Beförderungsvertrages gewesen ist, durch welchen es einen Schaden erlitten habe. Der oberste Gerichtshof Litauens setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor. Der oberste Gerichtshof wollte zunächst festgestellt wissen, ob Art. 19, Art. 22 und Art. 29 des Montrealer Übereinkommens dahingehend ausgelegt werden könnten, dass auch juristische Personen, insbesondere Arbeitgeber der Reisenden, gem. der obengenannten Artikel Schadensersatzansprüche geltend machen könnten. Bei einer Verneinung dieser Frage, wollte der oberste Gerichtshof Litauens außerdem feststellen lassen, ob eine juristische Person nach Art. 29 des Montrealer Übereinkommens ihren Schadensersatzanspruch auf nationales Recht stützen könne.
Der EuGH wies zunächst darauf hin, dass ein völkerrechtlicher Vertrag – wie das Montrealer Übereinkommen – stets anhand seines Wortlautes und im Lichte seiner Ziele ausgelegt werden müsse. Der EuGH führte aus, dass nach Art. 19 des Montrealer Übereinkommens jeder Schaden zu ersetzen ist, der durch Verspätung von Reisenden, Reisegepäck oder Gütern entsteht. Eine Angabe über schadensersatzberechtigte Personen enthalte dieser Artikel allerdings nicht. Der Gerichtshof stellte deshalb fest, dass aufgrund fehlenden ausdrücklichen Ausschlusses der Haftung eines Luftfahrtführers gegenüber einem Dritten, hier: Arbeitgeber, in Art. 19 des Übereinkommens, der Artikel derart ausgelegt werden könne, dass eine solche Haftung besteht. Demnach kann auch der Arbeitgeber nach Art. 19 des Montrealer Übereinkommens Schadensersatz für die Verspätung eines Fluges, auf den seine Arbeitnehmer gebucht waren, fordern. Einer Auslegung dem Wortlaut nach, ließe sich somit der Anspruch des Sonderermittlungsunternehmens bejahen.
Der EuGH ging allerdings noch weiter, indem er eine mit der Zielsetzung des Montrealer Übereinkommens vereinbare Auslegung betrieb. Hierzu zog der EuGH zunächst die verschiedenen Sprachfassungen der in Streit stehenden Artikel heran, um eine sichere Feststellung über deren Auslegung treffen zu können. So verglich der EuGH die französische, spanische, russische und englische Sprachfassungen und stellte fest, dass in keiner dieser Fassungen ersichtlich sei, dass der Schadensersatzanspruch lediglich den Reisenden zugeschrieben werde. Weiterhin stützte der EuGH seine Argumentation auf Art. 1 Abs. 1 des Montrealer Übereinkommens, der bestimmt, dass das Übereinkommen für jede internationale Beförderung von Personen, Reisegepäck und Gütern gilt, die durch Luftfahrzeuge gegen Entgelt durchgeführt werden. Der EuGH erklärte dazu, dass diese Norm Personen lediglich in ihrer Rolle als Reisende umfasse, die genauso wie Gepäck und Güter durch das Luftfahrtunternehmen befördert werden. Der Art. 1 Abs. 1 des Montrealer Übereinkommens sagt allerdings nichts dazu aus, dass nur Reisende das Recht haben Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Der EuGH setzte in einem weiteren Schritt den Art. 1 Abs. 1 des Montrealer Übereinkommens mit dem dritten Absatz seiner Präambel, der die Bedeutung des Verbraucherschutzes bei internationalen Beförderungsverträgen regelt, in Verbindung. Der Gerichtshof führte hierzu aus, dass die Begriffe des Verbrauchers und des Reisenden im Sinne des Montrealer Übereinkommens nicht als identisch angesehen werden könnten, d.h. diese können insoweit auseinander fallen, dass der Verbraucher auch jemand sein kann, der nicht gleichzeitig Reisender war. Dies bedeutet wiederrum, dass auch ein Arbeitgeber, der nicht im konkreten Fall Reisender war, vom Anwendungsbereich des Montrealer Übereinkommen erfasst ist und somit den ihm entstandenen Schaden vom Luftfahrunternehmen fordern kann.
Zu der Höhe des Schadensersatzanspruches trug der EuGH vor, dass diese den Beschränkungen des Montrealer Übereinkommens unterliegt und deshalb nicht die darin geregelte Höchstgrenze überschreiten dürfe. Außerdem sei zu beachten, dass der Schadensersatzanspruch nicht höher zu bemessen sei, als der den Reisenden isoliert und individuell zustehende Schadensersatzanspruch.
Auf die zweite Frage (s.o.), die der oberste Gerichtshof Litauens dem EuGH vorlegte, ging der EuGH nicht mehr ein, da er die erste Frage bejahte und es somit an der Notwendigkeit die zweite Frage zu beantworten fehle.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der EuGH durch sein Urteil festgelegt hat, dass der Anwendungsbereich des Montrealer Übereinkommens nunmehr auch auf einen Dritten, hier den Arbeitgeber, auszudehnen ist. Ein Arbeitgeber kann demnach, ohne selbst Reisender zu sein, einen Schadensersatzanspruch geltend machen, der dadurch entstanden ist, dass der Flug, auf den seine Arbeitnehmer gebucht waren, verspätet am Zielort gelandet ist.
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